sidetitle 2017

Problematik - Gründungsdatum

Als nach der Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. - 19. Oktober 1813 die französische Herrschaft östlich des Rheins in wenigen Wochen zusammenbrach und sich das Großherzogtum Berg, zu dem Sassenberg gehörte, auflöste, nahmen innerhalb weniger Wochen zum zweitenmal die Preußen Besitz vom Münsterland. Dort trauerte man den Franzosen zwar nicht nach, zeigte sich aber auch über die neuen Herren wenig erfreut.

Es war das besondere Anliegen des ersten preußischen Oberpräsidenten in Westfalen, des Freiherrn Ludwig Vincke, die "sturen" Westfalen, die sich nach der f'ürstbischöflichen Regierung zurücksehnten, behutsam an den preußischen Staat heranzuführen, der besonders wegen des konfessionellen Gegensatzes und des verhaßten Militärdienstes abgelehnt wurde.

Stärken des militärischen Geistes

In diese Phase des Integrationsbemühens fallen Schreiben Vinckes an die Kreisbehörden, in denen angeregt wird, durch Anknüpfen an das alte Brauchtum des Schützenwesens und des Vogelschießens den militärischen Geist zu stärken und die Bevölkerung mit Preußenstolz zu erfüllen. So heißt es im Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Münster vom 14.09.1816:

Es ist zu wünschen, daß die alte löbliche (..... ) Übung des Scheiben- und Vogelschießens überall, wo solche früher stattgefunden hat, wiederauflebe und wo solche noch nicht war, neu eingeführt, auch solche Tage dazu gewählt werden, welche die Erinnerung eines denkwürdigen, dem Orte, dem Lande oder dem Staate teuren Ereignisses heiligt. - Es werden die Behörden,besonders die Herren Kreis-Commissarien aufgefordert, solche angelegentlich zu befördern, über den Erfolg ihrer desfalsigen Bemühungen in den zu erstattenden Monatsberichten den Königl. Regierungen Rechenschaft zu geben und nichtnur dieOrte, sondern auch die Schützenkönige namhaft zu machen!

Die Landräte leiteten diese Anregung an die Bürgermeister der Kommunen ihres Kreises weiter. Die daraufhin einlaufenden Antwortschreiben sind für den Kreis Warendorf zum Teil erhalten und liegen bei den Akten des Landratsamtes Warendorf im Staatsarchiv Münster.

In betr. des Scheiben Schiessens schrieb Bürgermeister Schultz am 2. Oktober 18 16: Die Eingesessenen der Stadt Sassenberg haben in Vorzeiten auch wohl vor und nach der Scheibe geschossen, seit dem sie aber die Gewehre abgeben mußten, und keine wiederum anschaffen können, ist es unterblieben, und die Wenigsten haben seit dem Gewehre in Händen; indessen vertraute ich es doch in Ordnung zu bringen, daß sie gegen Freytag, den 18ten dieses als auf dem Jahr Tag der Schlacht bey Leipzich das Erstemal wiederum das Scheiben Schiessen anfangen werden. Da dieses aber ein Arbeits Tag ist, werden die Leute an dem folgenden Sonntag anfangen, weil sie dabey nach geendigten Scheibenschiessen sich lustig zu machen pflegten.

Doch Bürgermeister Schultz war wohl zu optimistisch, was die Einführung des Scheibenschießens betraf. Für die folgenden Jahre gibt es keinerlei Hinweis, daß Schützenfeste stattgefunden haben, - im Gegenteil, als die Regierung in Münster wegen mehrerer Unglücksfälle beim Vogelschießen strenge Vorsichtsmaßnahmen erließ und die Feste unter schärfere Aufsicht bringen wollte, antwortete am 19. Dezember 1829 der Sassenberger Bürgermeister von Schücking auf eine entsprechende Anfrage des Landrats von Schmising, daß "in unserem Bezirke keine Schießfeste, als Scheiben und Vogel Schiessen etc. bestehen."

Armut der Bevölkerung und Fehlen jeglicher Schützentradition

Diese Mitteilung erscheint angesichts der ständig herrschenden schlimmen Armut des Großteils der Sassenberger Bevölkerung und aufgrund des Fehlens jeglicher Schützentradition des Ortes durchaus glaubhaft. Es ist kaum zu vermuten, daß man damals in Sassenberg heimlich und ohne behördliche Genehmigung Schützenfeste größeren Ausmaßes gefeiert hat, denn gerade in den dreißiger Jahren kontrollierte die Obrigkeit sehr genau, nicht nur, weil sie um die Sicherheit der Festteilnehmer besorgt war, sondern weil sie überall geheime Gesellschaften und politischen Mißbrauch des Versammlungsrechtes witterte, bei den "Lustbarkeiten" einen Verfall von Sitte und Moral befürchtete und die Untertanen des Hanges zu Schlägereien und der Trunksucht verdächtigte. Bis zum Jahre 1840 gibt es keine einzige Nachricht, die auf einen Sassenberger Schützenverein hindeutet oder gar seine Existenz beweist.

Das früheste und entscheidende Schriftstück, sozusagen das Gründungsdokument, das bisher von allen Chronisten ignoriert worden ist, datiert vom 22. Mai 1840. Es handelt sich um ein von Bürgermeister von Schücking aufgezeichnetes Gesprächsprotokoll, das zum Schluß von den vier Antragstellern eigenhändig unterzeichnet worden ist und folgenden Wortlaut hat:

 

Sassenberg, den 22. Mai 1840

Erschienen

1. Herr Melchior zum Egen
2. Herr Bernard Mersmann
3. Herr Sondermann
4. Herr Wahlmeyer und zeigten an, wie es Absicht vieler Gemeindemitglieder sei, ein Schützenfest zu errichten, weshalb die nöthigen Vorkehrungen geschaffen und die Herren Komparenten zum Vorstande des Vereins gewählt worden wären. Sie überreichten hiermit die Statuten wonach die Festlichkeit begangen werden solle und bäthendie höhere Genehmigung zu der Bestätigung recht bald zu erwirken.

(gez.) M. zum Egen   (gez.) B. Mersmann   (gez.) H. Sondermann   (gez.) H. Wallmeyer

 

schucking

In diesem Haus erschien am 22.Mai 1840 der erste Vorstand des Sassenberger Schützenvereins, um die Genehmigung zu einem Schützenfest einzuholen.

 

In dieser ersten Besprechung wurde wohl auch schon das Festdatum genannt, nämlich der 9. Juni, d.h. der Dienstag nach Pfingsten. Bürgermeister von Schücking reichte die Bitte zwei Tage später an die zuständige höhere Instanz, den Warendorfer Landrat als Chef der Polizeibehörde, weiter.

Sassenberg, den 24. Mai 1840

Es hat sich hier im Orte ein Verein gebildet, welcher um die Erlaubnis bei uns eingekommen ist am 9ten Juni c. ein Schützenfest (Vogelschießen) halten zu dürfen.

 

Aus dem Schreiben geht weiter hervor, daß sich in der Anlage die "Statuten dieser Gesellschaft" befanden, die vor allem die Verantwortlichkeit des Vorstandes für das sittliche Betragen der Festteilnehmer und für die Sicherheitsvorkehrungen beim Schießen garantierte. Leider sind diese ersten Statuten nicht erhalten. Aus den zitierten Schreiben geht deutlich hervor, daß die Sassenberger Vereinsgründer nicht die Absicht hatten, militärischen Geist und Wehrfähigkeit zu fördern oder Oberhaupt altes Schützenwesen neu zu beleben, sondern daß es ausschließlich Ziel und Zweck der Mitglieder war, ein Fest nach der Art des andernorts üblichen Vogel- oder Königschießens zu feiern. Es waren lediglich die stringenten Vorschriften der Ordnungsbehörden, die dafür überhaupt eine Vereinsgründung verlangten. Dementsprechend waren abgeleisteter Wehrdienst oder auch nur geringe Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit der Schußwaffe keine Voraussetzung für die Mitgliedschaft.

Schützenfestverein statt Schützenverein

Aus diesen Gründen könnte man statt vom Sassenberger Schützenverein treffender vom "Schützen f e s t verein" sprechen.

Diesen Umstand hatte auch wohl der Landrat erkannt, wenn er den neuen Sassenberger Verein nicht als "wirkliche Schützengesellschaft" bezeichnen wollte und deshalb besondere Sicherheitsauflagen machte.

Herrn Bürgermeister von Schücking

Ew. Hochwohlgeboren eröffne ich auf den Bericht vom 24. d. dessen Anlage zurückerfolgt, daß ich zu dem am 9. k. Mts dort beabsichtigten Schützenfest die Genehmigung nur unter der Bedingung ertheile, wenn entweder statt des Vogelschießens ein Scheibenschießen stattfindet oder, wenn beim Vogelschießen der Stand der Schützen möglichst nahe bei der Vogelruthe etwa höchstens fünfzehn Schritte von derselben bestimmt wird, weil die nach der Anlage zusammengetretenen Teilnehmer als "wirkliche Schützengesellschaft" nicht angesehen werden darf. Daß bei dem Schießen allen Bestimmungen der Bekanntmachung vom 31. Mai 1828 Amtsblatt Seite 219 genau nachgekommen werde, darauf haben Sie sorgsam zu achten, und dem Vorstand der zuerst für dieses Jahr zusammengetretenen Gesellschaft deren Befolgung protokollarisch einzuschärfen.

Warendorf, den 25. Mai 1840
Der Landrath


Im darauffolgenden Sommer 1841 hatte inzwischen Bürgermeister Wessel die Nachfolge Schückings angetreten. Sein die Bitte des Schützenvereins weiterleitendes Schreiben wirft nochmals ein Licht auf das Gründungsdatum, wenn es heißt:

Die im vorigen Jahre zuerst zusammengetretene Schützen-Gesellschaft dahier ist bei mir darum eingekommen, am Dienstag, den 1. Juli d. J. ihr 2tes Schützenfest mit einem Vogeischießen pp. verbunden abhalten zu dürfen.

Nach den eindeutigen Aussagen der historischen Quellen, daß der Sassenberger Schützenverein im Mai 1840 gegründet worden sei, bleibt unklar, woher die Auffassung vom Gründungsjahr 1839 rührt; denn daß das erste Schützenfest auch erst 1840 gefeiert wurde, ist unbestritten. In diesem Zusammenhang ist ferner festzustellen, daß man weder das Jahr 1889, noch das Schützenfest von 1914 zum Anlaß für ein 50- bzw. 75-jähriges Jubiläum genommen hat. Auch von späteren "runden" Jahren nahm niemand im Verein Notiz. Man propagierte das angebliche Alter des Vereins zum ersten Mal in der Nazizeit, indem man zum Schützenfest des Jahres 1934 ein 95-jähriges Bestehen behauptete und das 100jährige Jubeltest für das Jahr 1939 avisierte.

 

In der Festschrift von 1939 heißt es lapidar:

"Das Gründungsjahr ist 1839. Diese Feststellung stützt sich auf die Aussage des Fabrikanten Christian Rath, Sassenberg, geb. 30. Mai 1835, gest. 6. Dezember 1927. Er hat bei seinen Ansprachen auf den Schützenfesten stets darauf hingewiesen, daß der Verein im Jahre 1839 gegründet worden sei und daher 1939 das hundertste Stiftungsfest begehen könne."

 

Eine unbewiesene Behauptung, die auch von der Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum ungeprüft übernommen wurde. Christian Rath war zur Zeit der Abfassung der Geschichte des Vereins bereits über ein Jahrzehnt verstorben. Der Verfasser August Fennenkötter hat ihn persönlich nie gesprochen; das Gründungsdatum ist ihm bei seinem Auftrag offenbar als unumstößlich vorgegeben worden. Die Akten des Kreisarchivs Warendorf und des Staatsarchivs Münster hat er nicht einsehen können.

Unverständlich bleibt auch, weshalb es niemanden stutzig gemacht hat, daß auf dem Schützenfest 1909, im angeblichen siebzigsten Gründungsjahr, feierlich eine neue Fahne geweiht wurde, auf der (bis heute) deutlich zu lesen ist: "Bürgerschützenverein Sassenberg, gegr. 1840." Ebenso zeigte die alte Standarte der Ehrengarde als Gründungsdatum des Vereins die Jahreszahl 1840; wie unbestechliche Fotos beweisen, wurden zum 100jährigen Jubiläum die (im Gegensatz zur gestickten Fahne) nur aufgemalten Ziffern der Jahreszahl 1839 überpinselt und in 1840 verändert. Ein Grund für diese Veränderung ist nirgends zu sehen.

Trotzdem braucht der Bürgerschützenverein seine Jubiläumsfeierlichkeiten nicht zu verschieben. Das oben zitierte Gesprächsprotokoll vom 22. Mai 1840 spricht immerhin davon, daß vor der Antragstellung die "nöthigen Vorkehrungen" getroffen worden seien; d.h. es mußte eine Gründungsversammlung einberufen, ein Vorstand gewählt und Statuten entworfen, redigiert und verabschiedet werden. Dies läßt die Möglichkeit glaubhaft erscheinen, daß der eigentliche Gründungsakt doch schon im Jahre 1839 stattgefunden hat und die überlieferten Aussagen Christian Raths wirklich von ihm gemacht worden sind.

Da er zum Zeitpunkt der Gründung ein vierjähriger Knirps war und demnach die gesamte Gründungsgeneration noch kennengelernt hat und seit 1867 selbst im Vorstand tätig war (wahrscheinlich als Schriftführer), müßte er bestens informiert gewesen sein. Schließlich läßt auch die Formulierung der Einladung zum Schützenfest 1840, die nicht vom Vorstand, sondern vom Festwirt ausgesprochen wird und in der nicht vom ersten, sondern vom "diesjährigen" Schützenfest die Rede ist, den Schluß zu, daß bereits im Vorjahr 1839 unter der Regie des geschäftstüchtigen Wirtes und mit demselben Publikum ein inoffizielles, d.h. nicht angemeldetes Schützenfest stattgefunden hat.

Demnach hätten wir es mit zwei Überlieferungen zutun: einer auf behördlichen Akten beruhenden und einer überwiegend mündlichen, vereinsinternen Tradition. Der Bürgerschützenverein Sassenberg wird daher nicht unberechtigt im Juli 1999 sein 160-jähriges Bestehen feiern und wegen einer zweifelhaften Spanne von vier Monaten nicht mit einer Jubiläumstradition brechen, die ihrerseits schon in der dritten Generation gepflegt wird und geachtet zu werden verdient. Wir wünschen, daß unsere Söhne und Töchter im Jahre 2039 in Freude und Eintracht auch das 200-jährige Jubiläum des Bürgerschützenvereins Sassenberg feiern.